Was ihr wollt

Juni 7, 2009

Als Christian den Finger auf die Türklingel legt, fühlt sich der Knopf kalt an. Tut er sonst nie, es kommen immer viele Leute zu ihnen, gerade morgens.
In der Schule war die Klausurphase vorüber gewesen, er müde und geschlaucht vom vielen Lernen und unintelligenten Mitschülern.
Klar hatte er da Urlaub gebraucht, seine Eltern hatten das verstanden, ihm den Flug bezahlt und das Hotel.
Böse Menschen mochten ihn verwöhnt nennen, arrogant.
Die Stufen zur Tür wirken leer, unbestimmt, Christian schiebt den Gedanken bei Seite.
Er klingelt noch einmal, hört keine Schritte.
Gähnend schiebt er die Fußmatte ein Stück bei Seite, will das zumindest, doch da ist keine Fußmatte und auch kein Schlüssel.
Jetzt ist er genervt, müde vom Flug, der Sitznachbar hat geschwitzt wie ein Schwein, Christian auch, er geht zu den Nachbarn.
Seine Eltern seien weg, sagen die nur. Wüssten sie nicht, wohin, weg jedenfalls, vorgestern, mit vielen Koffern und Kisten.
Er fährt zusammen, ungläubig, vielleicht ist schon April. Mit müden Fingern wählt er die Handynummer seiner Mutter- eine Computerfrau sagt, dass der Anschluss nicht vergeben ist und wünscht einen schönen Tag.
Nochmal zur Haustür jetzt, Christian rüttelt daran, klingelt nochmal, fährt sich durch die Haare.
Frau Hauser von nebenan fragt, ob er noch etwas brauche, sie habe Suppe auf dem Herd.
Christian antwortet nicht, beißt auf die Lippe, beim dritten Versuch gibt die Tür nach.
Er braucht eine Dusche und Schlaf, hat keine Zeit jetzt für dieses Theater. Ein Witz auf seine Kosten, gut und schön, aber genug ist genug.
Die Tür hängt schief in den Angeln, ein Teil des Rahmens noch am Bolzen, und gibt den Blick frei auf einen leeren Hausflur. Keine Bilder, kein kleiner Holztisch mit Blumenvase, nicht einmal Teppich.
Christian blinzelt, stolpert in den Flur, hinter ihm legt der Postbote Briefe vor die Tür und wünscht einen schönen Tag.
Kein Küchentisch mit Obstschale, keine alten Zeitungen auf dem Regal, sogar die Vorhänge sind abgenommen.
Schritte poltern die Treppe herunter, Christian atmet aus, dann wieder ein, es ist nicht sein Vater.
Sein Name sei Jülich und er würde die Tapeten mitnehmen sagte ein Mann. Oben sei er schon fertig, er komme morgen wieder. Einen schönen Tag wünsche er noch.
Christian nimmt ihn nicht wahr, stützt sich sich an der Wand ab, keucht.
Dort vorne, in der Mitte des großen Wohnraums, der jetzt aussieht wie eine Höhle, hatte sein Vater gestanden. Die Stirn in Zornesfalten gelegt hatte er sich gegen das Businessclass- Ticket verwehrt und dabei auf den Tisch geschlagen.
Verschwinde doch, verschwindet alle, hatte Christian nur gebrüllt im Gehen, und macht, was ihr wollt.

Walzer

Juni 3, 2009

Erschöpfungslos
Schweiß ist unsere Musik
wir tanzen und tanzen

das Peitschenorchester der Sklaventreiber
spielt auf
ab
spielt uns nieder

der Galgen spendet uns Schatten
in hyazinthener Nacht
wir tanzen und tanzen

um den Galgen
um dem Galgen
zu entkommen

wir tanzen und lachen
bis die Peitsche uns entwest

sieh, sie hängen schon
grinst die gehörnte Geißel
„Demut“

und wir tanzen und tanzen

2/2

Juni 1, 2009

Dieses Wochenende war ich wieder in Wolfenbüttel, wo ich eine Reihe Workshops für kreatives Schreiben besuche.

Im Laufe der kommenden Tage könnt ihr mal reinschauen, und sehen, was so rausgekommen ist dabei.

2/2

Das Klackern meiner Absätze auf Asphalt, die Haare windzerzaust, dich interessiert das nicht. Du bist auf deine eigene Art oberflächlich.
Du öffnest die Tür. “Wir müssen über die Arbeit reden.” sage ich.
Du wiegst den Kopf, kahl und kantig, und lässt mich rein.
Ich will meine Jacke aufhängen, du beäugst sie kritisch, misst ab, rückst sie zurecht.
Als du nicht hinsiehst, stelle ich die kleine Tasche ab; ich weiß, du magst sie nicht, behalte sie trotzdem.
Du gehst ins Wohnzimmer, an dem nichts Wohnliches ist. Es wirkt wie eine Ansammlung von Raum, die jemand hier vergessen hat, Kommazahlen einer Rechnung, tot und ohne Aussage.
Stühle stehen in rechtem Winkel zur Wand, anderen Stühlen, einem Tisch, parallel, symmetrisch, du setzt dich.
Ich achte darauf, nichts zu verrücken, als ich Platz nehme; es gibt genug davon.
„Ich brauche Zeit.“ Selbst deine Sprache ist kahl, dein Hass auf Überflüssiges ist allgegenwärtig.
„Wir müssen veröffentlichen, bald. Ehrlich gesagt, mir geht die Geduld aus und auch das Geld.
Hast du was zu trinken? Ich verdurste.“
Dann stehst du auf, gehst, kommst wieder, ein Glas Wasser in der Hand.
Sogar deine Gläser sind eckig.
Runde Dinge machen dir Angst, sie passen nicht ins System, schwer einordbar, du vermeidest sie.
„Meine Argumentation hat Lücken. Die Formeln stimmen, aber die Herleitung ist nicht eindeutig.“
Du trägst einen Anzug, deinen einzigen Anzug, er ist grau, und ich finde ihn scheußlich.
Ich habe dir einen zweiten zum Geburtstag geschenkt, du hast ihn weggelegt, vielleicht sogar mir zu Liebe behalten.
Im Schlafzimmer steht ein Schrank, größtenteils leer, eine Krawatte hängt darin, Rautenmuster, rechtwinklig.
Auch dein Wohnzimmer hast du zusammengestrichen wie eine Gleichung, den Teppich weggekürzt.
Ich habe vergessen, was du zuletzt gesagt hast, kann es nicht zugeben, du würdest es nicht verstehen. Stumm lege ich die Hand auf dein Knie.
Du sprichst nicht, überdenkst mögliche Reaktionen. Endlich bewegt sich deine Hand, bedeckt meine, warm, sanft.
„Morgen Abend gehen wir essen.“ sagst du und rückst ein Blatt auf dem Tisch zurecht.
„Du hasst das Restaurant.“
Du nickst.
„In zwei Tagen werde ich fertig sein. Ich schicke dir eine Kopie.“
Deine warme Hand liegt noch immer auf meiner, du willst, dass ich gehe.
Früher hast du mich auf eine unbestimmte Art fasziniert, wie ein seltenes, scheues Tier. Doch du hast deinen Käfig selten verlassen; nie, wenn du nicht musstest. Ich verbrauche mich an dir, komme dir nicht nahe.
Du weißt, was du willst, bekommst es- ich bin nicht Teil deiner Gleichung.
„Ich gehe jetzt. Arbeite nicht mehr zu viel.“
Du nickst.
Als ich aufstehe, rückst du meinen Stuhl zurecht, rückst mich zurecht, ordnest die Sätze, die noch im Raum stehen.
Auch uns hast du weggekürzt, kleinschrittig, logisch.
Ich will dich küssen zum Abschied, entscheide mich dagegen, gehe nur.
Ich bin deine Asymptote.

C. war gerade mit Gartenarbeit beschäftigt gewesen, als er getötet wurde.
Mit der Wucht eines Kometen schlug sein Kopf in eine Ameisenstraße, die zwischen seinen Füßen verlaufen war.
Staub und Erdkörner stoben in in einer dichten Wolke auf, die durch den Dschungel hochhaushoher Grashalme jagte und sich erst dutzende Millimeter weiter verlor.
Im Tod weit weniger Hindernis als im Leben, verlief die Ameisenstraße schon Minuten später über C.´s Schulter. Arbeitern, die gewaltige Gliedmaßen erlegter Gegner oder grammschweres Baumaterial trugen, diente der Geruch ihrer erschlagenen Artgenossen als Wegweiser, der in der dämmrigen Düsternis der Grashalmschluchten sonnenhell strahlte.
Weit außerhalb der Hemisphäre des Ameisenvolks saß auf einem Baum ein Rabe.
Wie ein Riss im Tag erstrahlte sein nachtschwarzes Gefieder, als er die Schwingen streckte und mit klugen Augen C.´s Kopf begutachtete. Die Lage war ungünstig, dachte er, wäre er doch von vorne erstochen worden.
Die Augen waren das beste, jeder wusste das, ungeduldig schüttelte er sich.
Er konnte sie entweder den Ratten überlassen oder warten, bis jemand den Kerl umdrehte.
Kurze Zeit später war seine Geduld erschöpft und er flog ab.

Einige Äste tiefer saß trauernd ein Eichhörnchen.
Wenn kein Wunder geschah, würde seine Familie die nächsten Tage nicht überstehen.
Ein Leichnam lag auf den Vorräten.

Standbild

Mai 17, 2009

Ein Strahl harschen, dünnen Lichts brach durch halb zugesperrte Fensterläden. Staub schien sich darin zu verfangen und hing grau und regungslos in der Luft.
In einer Ecke des Raums stand auf einem Glastisch ein Flachbildfernseher.
Lautlos flimmerte die Bildfläche, deren stroboskopisches Aufblitzen in unregelmäßigen Abständen eine leere Mineralwasserflasche und einen Aschenbecher anleuchtete.
Zerlesene Zeitschriften bedeckten den Boden, ein Teppich fremden Lebens, das ungreifbar und blass im Raum stand.
Hierher hatte er sich zurückgezogen, an diesen Ort äußerster Kälte und Einsamkeit, doch nicht einmal hier konnte er entkommen.

Gestern Abend hatte er wieder an der alten Bushaltestelle vor dem Altersheim gesessen, sein letztes Bier getrunken und in die Nacht geschwiegen.
Die Party war lau gewesen, gut besucht, aber nicht gut.
Sein Bier hatte schal geschmeckt und ihm war kalt gewesen, aber die Bushaltestelle musste er aushalten, das wusste er, sie war ein Ritual.
Die Nacht hatte kalt und klar über ihm gestanden, aber wie alles schien sie weit, unerreichbar weit entfernt zu passieren. Deshalb brauchte er die Bushaltestelle, brauchte er seine Rituale, Zigarrette danach, Kaffee davor, irgendwann Zeitung und Fernsehen, alles war ein Ritual.
Hornberg auf der Arbeit, dem er um zehn Uhr früh die Berichte brachte, ein Ritual, Partys am Freitag, Kater am Samstag, Arbeit von Montag bis zur nächsten Party.
Ein weiterer Schluck schalen Biers hatte ihn für einen Moment zurück in die Wirklichkeit gebracht.
Grausamerweise hatte er oft den Eindruck, etwas Besonderes zu sein.
Vielleicht der Einzige zu sein, der durch das Gewirr von Alltag blickte, dass man im Lauf eines Lebens um sich sponn; der einzige, der erkannte, das vierhundert Menschen auch bei lauter Musik nichts waren, als eine Summe von Einzelnen, von individueller Einsamkeit.
Deshalb brauchte er seine Rituale, weil es allen anderen irgendwie zu gelingen schien, sich im Leben zu verfangen, irgendwann darin hängen zu bleiben wie im Netz einer Spinne, bis sie schließlich aufhörten, zu zappeln.
Er musste das Leben, dass um ihn herum passierte, festhalten, sich darin einwickeln.
Es waren Momente wie dieser, in denen er aus seinem sorgsam gewobenen Gespinst fiel und in denen er sich plötzlich fragte, ob er vielleicht nur ein Fremdkörper war.
Er hatte über die Straße geblickt, wo gewaltige Laubbäume den schwachen Lichtschimmer von Wohnzimmerfenstern durchließen. Das Leben, das dort passierte, war ungreifbar, drang nur als schwacher Abglanz zu ihm.
Im Zehnminutentakt fuhren Autos die Straße entlang, eine dicke Frau fragte ihn, wo die Schule sei, er deutete vage in eine Richtung.
Freitag Abend hatte ihm die Antwort gebracht, als er erkannt hatte, dass sein Leben nichts war, als toter Selbstzweck, ein Fatalismus, dem er niemals entkommen würde.
Er lebte in einer Metapher.

Lebensaufgabe

März 30, 2009

Durch das kleine Kellerfenster konnten sie sehen, wie der Mond eine Sichel wie ein Kainsmal in den Nachthimmel brannte.
Es waren zwei Männer in dem Raum und keiner von ihnen freiwillig.
„Sehen sie“ sagte einer, und seine Gesichtszüge veränderten sich kaum „ich stecke in einer Zwickmühle.“ Sein Gegenüber bewegte sich nicht.
„Ich habe getötet, also verfolgt man mich. Eigentlich sollte ich Selbstmord begehen, denken sie nicht?“ Er ließ eine Bedeutungspause.
„Mein Gewissen belastet mich sehr, nachts kann ich nicht schlafen, es ist schrecklich.
Das Problem ist nur- sehen sie, ich liebe das Leben. Also habe ich mich gefragt, was tun? Was tun?“
Mondschatten, der durch das Fenster fiel, zeichnete ein Gittermuster auf seine Wangen.
„Die Lösung war naheliegend, sie ist nur kompliziert in der Durchführung.“
Sein Gegenüber hob den Kopf, öffnete die Augen und sah den Wahnsinn, der ihm eine Waffe auf die Brust drückte.
„Sie sind Nummer 251, wenn es sie irgendwie beruhigt.“ sagte er und neigte den Kopf.
„Ich schätze nicht.“

Regenfäuste

März 28, 2009

Als sie aus dem Fenster sah, regnete es.
Sie hasste die Art von Abend, bei der einem nichts blieb, als die Wahl zwischen Primetime- Fernsehen und Schlafengehen, wie sie alles hasste, was Menschen aufgezwungen wurde.
Ihre Hände spielten gelangweilt mit dem Hals einer halbleeren Bierflasche, die sie schließlich auf dem kleinen Glastisch vor dem Sofa abstellte.
Einen halben Meter entfernt sprach Roberto Blanco mit sonnengebräunter Stimme über die Problematik der Aids- Bekämpfung in Afrika und sein neuestes Album.
Sicher konnte sie ausschalten, aber es war erst kurz nach neun.
Niemand ging um neun Uhr schlafen, nur Ökos und die Sorte Kinder, die taten, was ihre Eltern ihnen sagten.
Darauf hatte sie immer einen Scheiß gegeben, immer, und war damit durchgekommen.
Was es nicht das, worum es überhaupt nur ging, durchkommen?
„In Gute Laune Pur geht es darum, eine positive Grundeinstellung zu bewahren, wissen sie?“
Sie tauschte Robertos Gesicht gegen das von Jauch aus, der Spenden für Tsunami- Opfer sammelte.
Um halb 11 ging sie ins Bett und kam sich progressiv vor.
Willkommen in dem Leben, dass du dir immer gewünscht hast.

Die Scheibenwischer taten ihr Bestes gegen den Regen , der zornig auf die Windschutzscheibe prügelte.
„Schlafen sie?“ Er warf einen Kontrollblick in den Rückspiegel, war mit dem Ergebnis zufrieden und konzentrierte sich wieder auf die Straße.
„Hast du mit Henrichs wegen der Verträge gesprochen?“ ihre Stimme war sanft, etwas tiefer, er mochte das.
„Sicher, Dienstag können wir mit dem Umzug anfangen. Ist auch alles geklärt.“
Die aufblendenden Scheinwerfer eines überholenden Wagens erhellten kurz ihr Gesicht.
„Du weißt, dass meine Mutter-

Ingmann öffnete die Augen- alles war voller Blut.
Seinem eigenen, wie er zu seinem Erschrecken feststellen musste, gleichzeitig mit der Tatsache, dass große Teile der Fahrertür nun zu seinem Körper gehörten.
Oder sich zumindest damit verbunden hatten.
Als er versuchte, nach seinem Handy zu greifen, brach sein rechter Arm endgültig, aber der Schmerz erreichte ihn nicht mehr.
„Wir brauchen größere Fernseher.“ war das Letzte, was er dachte.

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, dann gähnte und stöhnte er gleichzeitig, was sich weder gut anhörte, noch ihm wirklich gelang.
Wozu jetzt noch Stau?
Entnervt blickte er auf die Uhr. Auch egal, wie spät er kam.
Man kam immer zu spät, meistens wusste man es nur nicht.
Er ließ das Bremspedal los und die Automatik des Wagens kuppelte automatisch ein, brachte ihn ein paar Zentimeter nach vorne, bevor er wieder stillstand.
Seine Finger hatten Katjas Nummer schon halb gewählt, als er das Handy in die Hosentasche zurücksteckte. Besser, er kam unangemeldet, dann konnte sie ihn ja wohl nicht einfach auf die Straße setzen.
Als er wieder einige Zentimeter vorfuhr, kam es ihm erstaunlich vor und ernüchternd, dass sich nach 16 Jahren Ehe sein Besitz auf zwei Koffer reduzieren ließ.
Seine einzige Hoffnung war jetzt noch, dass seine Tochter ihn aufnehmen würde, nur übergangsweise natürlich, bis er wieder etwas aufgebaut hatte. Sicher- ihre Wohnung war klein, aber besser als irgendein Hotel, zumal das Geld kostete, das er dringend brauchte.
Von einem Käfig in den nächsten.

Lebensweisheiten

März 25, 2009

Es war einer dieser regnerischen Mittwoch-Nachmittage, an denen mich das Leben wie üblich vor eine Sinnkrise stellte.

Diesmal fiel sie jedoch besonders tiefgreifend und aufwühlend aus- nichtsdestotrotz begann alles sehr harmlos.

Ich öffne meine Standard- Newsseite (shortnews.de) und denke mir nichts böses.  Der Entertainment- Bereich verrät mir auf einen Blick zunächst folgendes: Fergie und Katie Price (Who the fuck is Fergie??) versteigern ihre Unterwäsche, soweit nicht schlimm, kann ja jeder mit seinem Kram machen, was er will.

Ich also draufgeklickt, diese schlauen Hunde aber auch, „Unterwäsche“ ist schließlich ein altbekannte Trigger für das Männerhirn. Auf einmal trifft es mich wie zwanzigtausend verschissene Schläge:

Eine harmlose Werbung unter dem eigentlichen Artikel stellt mich vor die Frage, die ich mir schon vor Wochen, Monaten, schon vor dem eigentlichen Beginn meines Lebens (die ersten 10 Minuten Pokemon Gold- Edition) hätte stellen müssen- „Was weisst du über Quitten?“

„Scheiße“ denke ich, und nichts anderes als „Scheiße“, NICHTS weiß ich über Quitten, absolut  nichts und irgendwie wird mir klar, dass das das Faktum sein könnte, das ich ändern muss, um aus meinem Leben so ein erfülltes, quasi Zen-mäßiges Ding zu machen.

Ich scheiße also auf alles wichtige, alles was ich noch zu tun hätte, und google „Quitten“:

Wikipedia sagt:

Die Quitte [ˈkvɪtə] (Cydonia oblonga) ist die einzige Pflanzenart der Gattung Cydonia, die zu den Kernobstgewächsen (Pyrinae) der Familie der Rosengewächse (Rosaceae) gehört.

What the fuck? Auf meiner Suche nach dem Sinn des Lebens bringt mich das auch nicht weiter. Hier muss entschlüsselungs- Arbeit geleistet werden. Ich und das Team von Gallileo Mystery sowie irgendjemand, von dem niemand wusste, was er hier eigentlich zu suchen hatte,  mussten also zunächst klären, what the fuck „Kernobstgewächse“ eigentlich waren.

Völlig klar, „Wenn du eine Quitte essen willst, suche nach Kernobst“, oder so, Zen- Style eben.

Mit der Hilfe von Ayman Abdallah, Roberto Blanco, einem britischen Formel- 1 Team, dem Maskottchen von Subways, einem Chinesen aus der Nachbarschaft, irgendeinem Typen, der in meinem Schrank lebt, meiner Oma, zwei Freunden von meinem Bruder, einer Kassiererin aus einem örtlichen Discounter, zwei streikenden Bahnern, einem Autoreifen, zwei Flaschen „Birds- Nest“ und einem rohen Ei gelang es uns schließlich, unter Aufwendung all unserer Kraft, sämtlicher verfügbarer Geldreserven (2,31€ und ein halbes Kaugummi) und nicht zuletzt der stimmungsaufhellenden Wirkung von Robertos Stimme, allen Spuren des rätselhaften Kernobstes bis an ihr Ende zu folgen.

Wir fanden folgendes heraus:

„Für die Aktivitäten der Wikinger gibt es höchst unterschiedliche Quellen mit sehr unterschiedlichem Aussagewert.“

Kluft

März 16, 2009

Bis zu dem Tag, an dem Herr Oswald starb, hatte niemand ihn gekannt.
Die meisten bestritten, jemals den Namen gehört zu haben, selbst, als sie die Kondolenzkarte mit der Einladung zu seiner Beerdigung empfingen.
Es war ein Sonntag und unanständigerweise regnete es nicht, was alles mehr wie ein Gartenfest als wie eine Trauerfeier aussehen ließ. Menschen standen in großer Zahl um das Loch, in dem der Tote vergraben werden würde, und blickten betreten zu Boden.
Irgendjemand fasste sich schließlich ein Herz und warf eine Schaufel Erde auf den Sarg, man klopfte ihm solidarisch auf die Schulter, murmelte „wird schon wieder“.
Insgesamt schafften es alle Einwohner des Städchens, Herr Oswalds Begräbnis ohne größeren Gesichtsverlust hinter sich zu bringen, die volle Tragweite seines Todes sollte sich jedoch erst Wochen später zeigen.

„Was zum Teufel machst du da?“ Garnsbergs Stimme unterstrich eindrucksvoll seine Gesichtsfarbe, die ihm das Aussehen eines Vulkans kurz vor dem Ausbruch verlieh.
„Keine Ahnung, ich… weiß nicht. Irgendwie geht’s nicht mehr..“ murmelte der Junge und legte, womit er sich beschäftigt hatte, bei Seite.
„Wir machen das hier schon seit Jahrhunderten, wir sind ein Traditionsbetrieb! Seit Monaten leistest du tadellose Arbeit und jetzt… das?“
In einer Ecke des kleinen Raumes, der hauptsächlich von einer Neonlampe über der Arbeitsbank erhellt wurde, stapelten sich verbogene Eisenteile.
„Es geht nicht mehr, glauben sie mir doch! Ich versuchs ja und versuchs…“
„Gib das her!“ Garnsberg nahm dem Jungen einen Hammer aus der Hand und begann, mit Enthusiasmus, jedoch ohne erkennbaren Erfolg, auf zwei kleine Metallstücke einzuhämmern, die wehrlos auf der Arbeitsplatte lagen.
Anschließend nahm er sie auf, wog sie einige Sekunden in der Hand und versuchte dann, sie zu bewegen. Erfolglos natürlich, denn sie hatten sich verbogen und ineinander verkantet.
Einige Versuche später musste auch Garnsberg die Sinnlosigkeit seines Bemühens einsehen und kratzte sich verlegen am Hinterkopf.
„Hast wohl Recht, Junge. Besser, du machst erst mal Feierabend, wir werden schon rausfinden, worans liegt.“

Als Garnsberg sich zwei Tage später ein neues Auto kaufte und auf seiner ersten Fahrt durch den Ort beschloss, noch etwas beim Fleischer zu holen, hatte er die Lösung für sein Problem immer noch nicht gefunden.
Seit Ewigkeiten hatte seine Familie nie etwas anderes getan, als diese Dinger zusammenzustecken, und er konnte sich nicht erinnern, dass sie dazu jemals einen Hammer gebraucht hatten.
Beunruhigt schüttelte er den Kopf und blickte aus dem Seitenfenster. Wenn ihm nicht bald etwas einfiel, war seine ganze Existenz gefährdet.
Im Elektronikladen an der Ecke spielten die Fernseher verrückt und zeigten nur Testbilder an, während eine Frau auf dem Bürgersteig vergeblich versuchte, ihren Kinderwagen von der Stelle zu bewegen. Wie denn auch, lachte Garnsberg in sich hinein, das Ding hatte ja keine Räder!
Vor ihm zog ein Mann einen Wagen mit Tageszeitungen über den Zebrastreifen, ebenfalls radlos.
Garnsberg trat ein wenig auf die Bremse, würde wohl noch dauern, bis der da rüber war.
Es dauerte bloß Millisekunden, bis er begriff, dass sie nicht funktionierte.
Ungläubig trat er das Bremspedal durch, vollkommen wirkungslos, zog die Handbremse, schaltete den Motor ab-

„Warum haben sie so lange gebraucht? Und warum sind sie zu Fuß hier?“
„Gehen sie endlich bei Seite!“ brüllte der Arzt und schob den Mann weg, „Er verblutet!“
Um den Unfallort hatte sich eine Menschtraube gebildet, die von den anwesenden Polizisten nur schwer zurückgehalten werden konnte.
„Schwester, geben sie mir Mull, jede Menge Mull!“
„Mein Name ist Armin…“ murmelte Armin und tastete nach seinen Beinen, von denen das Meiste allerdings nicht länger Teil seines Körpers war.
„Gut für sie, Armin!“ rief der Notarzt, während er damit beschäftigt war, Verbände überall dort hineinzuschieben, wo es blutete.
„Er ist noch bei Bewusstsein, schnell! Schwester, wie lange braucht der Hubschrauber noch?“
„Das kann noch dauern, die haben Startprobleme!“
„Verfluchter Mist! Armin? Armin, halten sie durch!“
„Mein Name ist Armin.“ sagte Armin und blutete.
Der Arzt fühlte seinen Puls am Hals und sah kurz auf die Uhr.
„Schwester, er verblutet! Oh verdammt!“
Armin schloss die Augen und gab einen tiefen Seufzer von sich.
Die Menschentraube stöhnte auf und mit ihr die Polizisten, die sich zu den Gaffern gesellt hatten.
„Er hat einen Herzstillstand, schnell! Geben sie schon her!“
In einer Geste verzweifelter Hoffnung presste der Notarzt ein kompliziert aussehendes Gerät auf Armins zertrümmerte Brust, wieder und wieder, dann noch einmal, schließlich in immer größeren Abständen, bis er es schließlich aufgab.
Der Arzt blickte auf die Uhr.
„Zeitpunkt des Todes, vierzehn Uhr zwölf, Todesursache: Herzstillstand nach akutem Blutverlust. Warum zum Teufel funktioniert dieses Ding nicht?“

Auch später sollte niemand dahinter kommen, was Herr Oswald eigentlich getan hatte.
Die einhellige Meinung war, dass es wohl wichtig gewesen sein musste und vor allem mit Dingen zu tun hatte, von denen man ausging, dass sie einfach funktionierten.
Herr Oswald war gestorben, wie er gelebt hatte; einsam. Und er hatte keine Lücke hinterlassen, sondern eine Kluft.

Um 19.15 schalte ich den Fernseher ein. Was läuft? Galileo auf Pro7. Gut, normalerweise sehe ich mir das nicht mehr an, früher waren die mal ganz intelligent, heute könnte man sich als Equivalent wahrscheinlich auch TalkTalkTalk reinziehen.

Der einzige Grund also, warum ich der Sendung eine Chance gebe, ist das Interesse an einer Reportage über „Killerspiele“, im Zusammenhang mit dem Amoklauf von Winneden aktuell wieder ein großes Thema. Pro7 hat irgendwo einen Lehrer des Erfurter Gutenberg- Gymnasiums aufgetrieben, der sich im Auftrag der besseren Menschen „auf eine Reise begibt“ um „zu verstehen, ob Killerspiele wirklich im Zusammenhang mit Amokläufen stehen“.

Die Antwort ist einfach: Natürlich tun sie das. Die obrige Frage gerät allerdings traurigerweise im Verlauf der Reportage immer mehr in den Hintergrund, obwohl ihre ausführliche Klärung gerade auf einem Quotensender wie Pro7 sicher dazu beigetragen hätte, die Stigmatisierung von Computerspielern zu beenden. Stattdessen läuft, wie schon der Gebrauch des Worts „Killerspiele“ andeutet, zwanzig Minuten lang das übliche Programm.

Schreckliche Ereignisse wie eben der Amoklauf von Winneden führen leider auch hier zu einem erschreckenden Populismus, der vor keiner Grenze halt macht. An dieser Stelle kommt dann der Titel dieses kurzen Artikels zur Geltung:

Obwohl die Reportage mit den Worten (ungefähr) endet „Killerspiele sind nicht der alleinige Grund für Amokläufe“, werden in ihr Computerspieler, Menschen wie ihr und ich, allesamt in einen Topf geworfen und zu Versagern und Suchtgefährdeten erklärt. In den erwähnten zwanzig Minuten fällt das Wort „Killerspiele“ wahrscheinlich öfter als jede Konjunktion, immer wieder wird ein und die gleiche Szene aus irgendeinem Egoshooter gezeigt; der Spieler rennt durch einen dunklen Gang, ein Typ taucht auf, wird erschossen und knallt gegen die Wand, wo er tot zusammensackt.

Die einzigen Beispiele von Spielern, die in der Reportage auftauchen, sind ausgemergelte, realitätsferne Gestalten mit klischeeigen Essgewohnheiten, was zum einen natürlich sicher teilweise der Fall ist, aber im größeren Maßstab gesehen eine so geringe Teilmenge der Spielergemeinschaft ausmacht, dass es schier lächerlich ist.

Computerspielsucht ist ein Problem, das, behaupte ich mal, in den nächsten Jahren an Bedeutung eher noch gewinnen wird. Die einseitige Berichterstattung, die Pro7 in seiner Reportage jedoch betreibt, ist lachhaft, wenn auch clever auf die Quote ausgerichtet: In diesem Fall richtet sich Galileo,vor allem mit dem ältlichen Lehrer, der durch die Reportage führt, ganz klar an die 40+ „wir verstehen unsere Kinder nicht mehr'“- Generation.

Zur Verfügung gestellt werden keine Fakten, es findet keine sachgemäße Erläuterung statt sondern nur ein erneuter Aufguss der altbekannten Begriffe „Killerspiele“, „Spielesucht“, „künstliche Welt voller sinnloser Gewalt und Macht“. „Ego- Shooter“, ein Terminus, der meiner Meinung nach klar und deutlich die Ausrichtung der sg. „Killerspieler“ verdeutlicht, fällt nur zweimal, und das auch nur, weil er auf Schildern steht, die eingeblendet werden.

Eine vernünftige Kommunikation zwischen Eltern und Kindern, wenn es ums Thema Computerspiele, besonders Ego- Shooter, wird durch solche Reportagen gezielt verhindert, ohne auf die Folgen zu achten. Wenn eine solche Kommunikation nämlich nicht stattfindet, kommt es zu genau solchen Massakern wie in Winneden.

Gewagt, meiner Meinung nach aber nicht einmal zu weit aus dem Fenster gelehnt, stelle ich die These auf: unsachgemäße, inkonsequente und populistische Berichterstattung wie die von Gallileo auf Pro7 wird in Zukunft immer mehr eine Teilschuld an solchen Gewaltausbrüchen tragen.

Statt beispielsweise das soziale Umfeld von Patienten einer Klinik für Computerspielsüchtige zu beleuchten, wird dieses nur am Rande erwähnt- ist doch viel interessanter, was sie eigentlich gespielt haben und warum sie so viel Freude an sinnloser Gewalt im Spiel haben. Ich sage euch warum: Weil sie an schwerwiegenden psychischen Problemen leiden, weil ihr soziales Umfeld sie ausstößt oder missachtet und weil sich niemand auch nur einen Dreck um ihre wirklichen Probleme schert.

Im Fazit bleibt nur zu sagen, dass, im Angesicht der stigmatisierenden und fahrlässig bruchstückhaften Berichterstattung aktueller Medien zum Thema Ego- shooter, der älteren Generation nichts bleibt, als sich selbst zu informieren. Was hindert Eltern daran, sich Computerspiel- Zeitschriften zu kaufen? Nichts. Die Berichterstattung dort hilft allerdings, Gedankengänge der Kinder nachzuvollziehen und sorgt vor allem für eine fehlerfreie Information über das, was die lieben Kleinen eigentlich so spielen.